Psychologen und Wissenschaftler gehen davon aus, dass mehr als 90 Prozent aller Probleme, die wir heute mit uns herumschleppen, auf die sogenannten Prägungsjahre unserer Kindheit zurückzuführen sind. Was uns damals widerfahren ist, hat uns im wahrsten Sinne des Wortes „geprägt“, wir führen die Muster also lebenslang weiter. Möchten wir an all den unerwünschten Verhaltensmustern, Ängsten und Nöten etwas ändern, haben wir nur eine Möglichkeit: Wir müssen uns mit unserer Vergangenheit versöhnen und das innere Kind in uns heilen und befreien. Ich stelle dir nachfolgend einige effektive Übungen vor, die du problemlos ganz für dich alleine durchführen kannst. Möglicherweise werden sie dir emotional eine Menge abfordern. Dennoch lohnt es sich, den Weg zu gehen.
- Baue zu deinem inneren Kind einen Kontakt auf
Hast du in jungen Jahren negative oder gar traumatische Erfahrungen machen müssen? Kann es sein, dass du als Heranwachsender irgendwann den unbewussten Beschluss gefasst hast, dich von diesem gefürchteten Teil deines Lebens zu isolieren, um dich vor schmerzhaften Emotionen zu schützen? Dies ist jedoch der falsche Weg, denn du kannst dich nur dann befreien, wenn du dein inneres Kind annimmst und dich mit ihm auseinandersetzt. „Auseinandersetzen“ ist in diesem Zusammenhang übrigens durchweg positiv gemeint, denn es geht darum, dich deinem inneren Kind liebevoll und fürsorglich zuzuwenden. Besitzt du noch ein Foto von dir aus deiner Kindheit? Vielleicht ein Bild, auf dem du unglücklich, verunsichert, verschlossen oder abweisend wirkst? Schau dir dieses Foto genau an und versetze dich in die Lage und den emotionalen Zustand des Kindes. Was könnte es gedacht oder gefühlt haben? Spreche dann mit deinem inneren Kind und sage ihm, dass es liebenswert und wertvoll ist. Versichere ihm, dass es nicht allein ist. Alternativ oder zusätzlich kannst du auch ein altes Kuscheltier von früher in den Arm nehmen. Stell dir nun vor, das Kuscheltier wäre dein jüngeres Ich, das von dir liebevoll gewiegt wird. Schließe die Augen und lasse die Gefühle, die dein inneres Kind gerade durchlebt, auf dich wirken. Ist es Trauer? Hoffnungslosigkeit? Wut? Einsamkeit? Gehe auf diese Emotionen ein und gib deinem inneren Kind das, was es braucht. Verspreche ihm dann, dass der Kontakt zwischen euch nie wieder abreißt.
- Verabrede dich täglich mit deinem inneren Kind
Jetzt, wo der Kontakt wieder hergestellt ist, solltest du jeden Tag etwas Zeit mit deinem inneren Kind verbringen. Bei diesen „Verabredungen“ solltest du ihm gut zureden und ihm sagen, dass du es liebst. Braucht es vielleicht einfach kritiklose Anerkennung oder körperliche Zuwendung? Dann lobe dich selbst, schenke dir eine Umarmung oder eine sanfte Berührung. Ist dir das unangenehm, kannst du die körperliche Zuwendung auch in deiner Vorstellung geben. In einer ruhigen Stunde schreibst du deinem inneren Kind dann einen Brief. Lasse es wissen, wie wundervoll und einzigartig es ist und wie froh du bist, dass du wieder mit ihm in Kontakt bist. Sag ihm all die Dinge, die du selbst damals gerne gehört hätte.
- Stell deinem inneren Kind Fragen und warte auf Antwort
Wenn du noch einen Schritt weiter gehen möchtest, stellst du deinem inneren Kind in dem Brief Fragen. Beispiele: Was vermisst du am meisten? Wonach sehnst du dich? Verfasse die Fragen mit der Hand, mit der du üblicherweise schreibst. Lass deine Gedanken und Emotionen anschließend fließen und bringe die Antworten mit der anderen (nicht dominanten) Hand zu Papier. Für dich fühlt es sich jetzt automatisch so an, als hätte eine andere Person (nämlich dein inneres Kind) die Antworten geschrieben.
- Nimm dein inneres Kind mit in deine heutige Welt
Zeige deinem inneren Kind dein heutiges Leben und nimm es in Gedanken ein Stück mit. Wie gefällt ihm deine Welt, was mag es und was mag es nicht? Ist es mit dir und deiner Lebensweise zufrieden oder hätte es sich mehr für dich gewünscht? Hat es vielleicht sogar einen Rat für dich? Eine Idee oder einen besonderen Impuls?
Falls du dich nun fragst, welchen Sinn ein solcher „Dialog“ überhaupt hat: Er verschafft du einen Zugang zu deinem Unterbewusstsein und gibt dir die Möglichkeit, längst Verschüttetes aus deiner Kindheit zu erfahren. Dein inneres Kind kann dir eine Menge erzählen: Du musst nur zuhören und offen sein!
- Lass deinen Urschmerz zu und stell dich ihm
All die schmerzhaften Gefühle, die du als Kind durchleben musstest, hast du irgendwann von dir abgespalten und verdrängt. Sie waren zu intensiv, um sie weiter auszuhalten. Doch weißt du, was diese Gefühle sind? Sie sind nichts anderes als das allein gelassene, unsichere und zutiefst verletzte innere Kind. Das Verdrängen ist eine Selbstschutz-Methode deiner Seele, denn die damaligen Gefühle waren zu intensiv, um sie auf Dauer zu verkraften. Deine Psyche hat also versucht, dich vor seelischen Schmerzen zu bewahren, indem sie dich von den traumatischen Gefühlen abgeschnitten hat.
Trotzdem sind die Emotionen tief in dir noch vorhanden. Du hast zwar so manche Taktik entwickelt, um sie auch weiterhin mit aller Macht zu verdrängen, doch sie klopfen immer wieder an und verlängern deinen Leidensweg darum unendlich. Doch es gibt auch eine gute Nachricht: Du kannst dich diesen Gefühlen stellen, denn sie werden dich nicht umbringen. Egal, wie schmerzlich oder gar schrecklich sie sich anfühlen, Heilung erfährst du nur dann, wenn du dich für sie öffnest und sie nicht verdrängst.
- Die Rückkehr in die Vergangenheit
Wenn du das nächste Mal spürst, dass die Gefühle von damals in dir hochkommen, nimm sie bewusst wahr und flüchte nicht vor ihnen. Frage dich stattdessen, wann du dieses Gefühl zum allerersten Mal hattest, ohne jedoch darüber nachzudenken. Schlüpfe nun in die Rolle deines inneren Kindes. Welches Bild taucht jetzt in deinem Unterbewusstsein auf? Betrachte es ganz genau: Wie alt bist du in diesem Moment? Wo bist du und was siehst oder hörst du? Wer ist bei dir? Was ist passiert? Höchstwahrscheinlich gibt das Bild jetzt genau die Situation wider, in der du die schmerzhaften Gefühle erstmals mit voller Wucht erlebt hast. Mache den Schmerz deines inneren Kindes jetzt zu deinem eigenen Schmerz und stell dir vor, dass dein heutiges erwachsenes Ich zur Szenerie hinzukommt. Gehe nun zu deinem inneren Kind und beruhige oder tröste es. Nimm es in den Arm und gib ihm das, was es braucht. Vielleicht wünscht es sich, dass du es verteidigst, vielleicht möchte es einfach nur vom Ort des Geschehens verschwinden. Je nach Situation bittet es dich vielleicht sogar darum, die Polizei zu rufen. Wichtig ist, dass du die Bedürfnisse deines inneren Kindes in deiner Vorstellung erfüllst. Dein inneres Kind kann dadurch aus der Opferrolle heraustreten. Dies führt zu einer enormen Erleichterung oder sogar Befreiung, denn die schmerzhaften Gefühle lösen sich nun auf.
- Den Weg gemeinsam oder alleine weitergehen
Ist die traumatische Situation vorbei, frage dein inneres Kind, ob es mit dir mitkommen möchte. Wenn es lieber an dem Ort bleiben will, ist das okay, denn du kannst auch später jederzeit wieder Kontakt mit ihm aufnehmen. Möchte es mitkommen, führe es an einen schönen und sicheren Ort. Auf eine blühende Wiese mit vielen bunten Schmetterlingen beispielsweise oder auch in ein behagliches, kuscheliges Zimmer. Versichere ihm auch hier wieder, dass du es nie im Stich lassen wirst. Wenn ihr beide möchtet, kannst du dein inneres Kind auch baden. Das Bad hat eine starke Symbolkraft, da es sowohl äußerlich als auch innerlich reinigend wirkt.
Wichtig ist, das du bei all diesen Schritten geduldig bleibst. Vielleicht ist dein inneres Kind zu Beginn noch nicht zu einer Kontaktaufnahme oder zu Antworten bereit. Dies solltest du akzeptieren. Versuche es dann einfach später noch einmal.
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